Aus wistra 6/2022
In einem parlamentarischen Vorgang in Bayern weisen Fragesteller darauf hin, dass die kommunale Selbstverwaltung ein hohes verfassungsrechtliches Gut ist. Die dafür notwendige finanzielle Ausstattung werde u.a. durch eigene Steuerquellen der Kommunen insbesondere in Form der Gewerbesteuer – verbunden mit einem eigenen Hebesatzrecht – sichergestellt (Art. 28 Abs. 2, Art. 106 Abs. 6 GG). Der Gewerbesteuerhebesatz könne somit unter den Kommunen variieren, müsse nach der bundesgesetzlichen Regelung des § 16 Abs. 4 GewStG aber mindestens 200 Prozent betragen. Den Kommunen sei es damit verfassungsrechtlich garantiert, dass sie regionale Standortfaktoren bei der Hebesatzfestsetzung berücksichtigen können und damit am interkommunalen Wettbewerb um Gewerbeansiedlungen teilnehmen.
Anknüpfend daran wurde u.a. gefragt, welche Erkenntnisse der Staatsregierung darüber vorliegen, dass Firmensitze (bspw. durch ein sog. Virtual Office) systematisch in Kommunen mit sehr niedrigem Gewerbesteuerhebesatz verlagert werden, um die Gewerbesteuerlast zu senken. Welche Erkenntnisse lägen der Staatsregierung darüber vor, dass hierbei gegen die einschlägigen Regelungen des GewStG und der AO verstoßen wird? Welche Maßnahmen ergreife die Staatsregierung, um gegen entsprechende Fälle von Steuerhinterziehung vorzugehen? Die Staatsregierung erklärt hierzu (Drs. 18/19727), dass die Wahl des geeigneten Unternehmensstandorts Ausdruck der unternehmerischen Freiheit eines jeden einzelnen Gewerbetreibenden sei und regelmäßig von ganz verschiedenartigen Faktoren wie bspw. der vorzufindenden Infrastruktur und Marktbedingungen oder auch dem Angebot an Fachkräften und weiteren Rahmenbedingungen vor Ort abhänge. Ein Verstoß gegen Regelungen des GewStG und der AO sei allein durch die Verlagerung des Firmensitzes in Gemeinden mit niedrigem Gewerbesteuerhebesatz nicht gegeben.
Aufgabe der Finanzämter sei es, Steuern nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig festzusetzen und zu erheben (§§ 85, 249 AO). Bestehen Zweifel, ob der erklärte Firmensitz als Ort der Geschäftsleitung in Betracht kommt und eine Betriebsstätte begründet, würden die Finanzämter die tatsächlichen Gegebenheiten ermitteln. In diesem Zusammenhang fänden auch Außenprüfungen nach § 193 AO mit Betriebsbesichtigungen und bei einem (Anfangs-)Verdacht einer verfolgbaren Steuerstraftat auch Steuerfahndungsprüfungen nach § 208 AO statt. Erkenntnisse über eine systematische Verlagerung, d.h. einer gemeinsam geplanten und ausgeführten Aktion einer Vielzahl von Steuersubjekten, lägen nicht vor.
Wird in der Steuererklärung ein Ort als Betriebsstätte angegeben, der die Erfordernisse nach § 12 AO nicht erfüllt (Scheinfirmensitz) und kommt es deswegen zu einer ungerechtfertigten Verlagerung der Hebeberechtigung in eine Kommune mit niedrigerem Hebesatz, so kann dies nach Ansicht der Staatsregierung den Tatbestand der Steuerhinterziehung erfüllen. Nach § 4 GewStG unterliegen Gewerbebetriebe, die keine Reisegewerbebetriebe sind, der Gewerbesteuer in der Gemeinde, in der eine Betriebsstätte zur Ausübung des stehenden Gewerbes unterhalten wird. Der Begriff der Betriebsstätte ergibt sich aus § 12 AO und ist definiert als jede feste Geschäftseinrichtung oder Anlage, die der Tätigkeit eines Unternehmens dient. Sie muss u.a. örtlich fixiert sein und der Unternehmer muss darin seine eigene gewerbliche Tätigkeit ausüben. Außerdem muss der Unternehmer eine gewisse, nicht nur vorübergehende Verfügungsmacht über diese Einrichtung haben. Nach § 12 S. 2 AO ist insbesondere auch die Stätte der Geschäftsleitung als Betriebsstätte anzusehen. Geschäftsleitung ist nach § 10 AO der Mittelpunkt der geschäftlichen Oberleitung.
Die Staatsregierung merkt hierzu an, dass dieser Mittelpunkt nach der Rechtsprechung des BFH dort ist, wo der für die Geschäftsführung maßgebliche Wille gebildet wird. Regelmäßig sei das der Ort, an dem die zur Vertretung befugten Personen die ihnen obliegende laufende Geschäftsführertätigkeit entfalten, d.h. an dem sie die tatsächlichen und rechtsgeschäftlichen Handlungen vornehmen, die der gewöhnliche Betrieb der Gesellschaft mit sich bringt (sog. Tagesgeschäfte). Die Prüfung und Entscheidung über das Vorliegen einer (Geschäftsleitungs-)Betriebsstätte i.S.d. § 12 AO hänge damit entscheidend von den tatsächlichen Gegebenheiten des Einzelfalls ab. Die Ausübung von Tätigkeiten im Rahmen eines steuergesetzlich nicht näher definierten sog. Virtual Office könne nur dann zu einer steuerlichen Betriebsstätte führen, wenn diese Wirkungsstätte die Voraussetzungen des § 12 AO erfüllen. Auch hier komme es auf die Ausgestaltung in jedem Einzelfall an.
Rechtsanwalt Prof. Dr. Carsten Wegner, Berlin