Aus wistra 4/2022
In der Hamburger Bürgerschaft wurde die Tätigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft thematisiert (Drs. 22/6532). Diese findet ihre Grundlage in der unmittelbar geltenden Verordnung (EU) 2017/ 1939 des Rates vom 12.10.2017 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA) (im Folgenden: EUStA-Verordnung). Der Ausführung dieser EUStA-Verordnung auf nationaler Ebene dient das Europäische- Staatsanwaltschaft-Gesetz (EUStAG) vom 10.7.2020 (BGBl. I S. 1648; dazu Möhrenschlager wistra 2020 R XLIX ff.). Die Europäische Staatsanwaltschaft ist gem. Art. 4 bzw. 22 und 23 EUStA-Verordnung für die strafrechtliche Untersuchung und Verfolgung sowie die Anklageerhebung in Bezug auf Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union zuständig, die in der Richtlinie (EU) 2017/1371 (sog. PIF-Richtlinie: „Protection des intérêts financiers“) in ihrer Umsetzung in nationales Recht festgelegt sind. Darunter fallen etwa Subventionsbetrug, Korruption, grenzüberschreitender Mehrwertsteuerbetrug oder Straftaten nach dem EU-Finanzschutzstärkungsgesetz vom 19.6.2019 (BGBl. I S. 844).
Dabei ist die Europäische Staatsanwaltschaft in der Regel nur für Straftaten mit einem geschätzten Schaden zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU i.H.v. mindestens 10.000 € (Ausnahmen in Art. 25 Abs. 2 EUStA-Verordnung) und bei Straftaten aus Mehrwertsteuerbetrugssystemen ab einem Gesamtschaden von mindestens 10 Mio. € (Art. 22 Abs. 1 S. 2 EUStA-Verordnung) zuständig. In zeitlicher Hinsicht besteht gem. Art. 120 Abs. 2 Unterabs. 1 EUStA-Verordnung eine Zuständigkeit in Bezug auf alle sog. PIF-Straftaten, die nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung, also nach dem 20.11.2017 begangen wurden.
Die zentrale Dienststelle der Europäischen Staatsanwaltschaft in Luxemburg wird von der Europäischen Generalstaatsanwältin geleitet. Zudem haben dort die Europäischen Staatsanwälte (eine Person pro beteiligtem Mitgliedstaat) ihren Dienstsitz. Die Europäischen Staatsanwälte führen in erster Linie die Aufsicht über die Verfahren im „eigenen“ Mitgliedstaat. Zusammen bilden sie mit der Europäischen Generalstaatsanwältin das „Kollegium“ nach Art. 9 EUStA-Verordnung und die „Ständigen Kammern“ nach Art. 10 EUStA-Verordnung. Das Kollegium nimmt eine Reihe von Verwaltungsaufgaben wahr.
Die Kammern üben interne Aufsichtsfunktionen aus und sind in den Ermittlungsverfahren grundsätzlich für die Abschlussentscheidungen zuständig. Auf dezentraler Ebene obliegen den in den Mitgliedstaaten tätigen, sog. Delegierten Europäischen Staatsanwältinnen und Staatsanwälten (vgl. Art. 13 EUStA-Verordnung) die Ermittlungen sowie ggf. die Anklageerhebung und -vertretung vor den nach nationalem Recht zuständigen Gerichten. Hat die Europäische Staatsanwaltschaft etwa nach der Verdachtsmeldung einer nationalen Behörde i.S.v. Art. 24 Abs. 1 EUStA-Verordnung ein Ermittlungsverfahren eingeleitet (Art. 26 EUStA-Verordnung) oder hat sie im Wege der Evokation ein nationales Ermittlungsverfahren übernommen (Art. 27 EUStA-Verordnung), üben in Deutschland die konkret mit den Ermittlungen betrauten Delegierten Europäischen Staatsanwälte gem. § 142b GVG das Amt der Staatsanwaltschaft aus. Sie haben damit grundsätzlich die gleichen Befugnisse wie nationale Staatsanwälte und können sich bei ihren Ermittlungen insbesondere auch der Unterstützung durch die deutschen Polizei- und Finanzbehörden bedienen. Die deutschen Vorschriften über das strafrechtliche Verfahren, insbesondere die Strafprozessordnung, das GVG, das Jugendgerichtsgesetz und die Abgabenordnung sind anzuwenden, soweit nicht in der EUStA-Verordnung oder im Europäische-Staatsanwaltschaft-Gesetz
etwas anderes bestimmt ist.
Bei den für Deutschland ernannten elf Delegierten Europäischen Staatsanwälten handelt es sich um (Ober-)Staatsanwälte aus verschiedenen Ländern und eine Oberstaatsanwältin beim BGH. Sie sind nach Art. 96 Abs. 6 S. 1 EUStA-Verordnung als Sonderberater gemäß den Art. 5, 123 und 124 der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Union eingestellt. Deutschland hat sich im Einvernehmen mit der Europäischen Staatsanwaltschaft entschieden, die Delegierten Europäischen Staatsanwälte auf fünf Dienstsitze zu verteilen. Außer Berlin, Frankfurt/M., Köln und München zählt auch Hamburg zu diesen Standorten.
Die Europäische Staatsanwaltschaft ist eine unabhängige Einrichtung der Europäischen Union mit eigener Rechtspersönlichkeit. Nach Art. 6 EUStA-Verordnung darf sie bei der Erfüllung ihrer Pflichten Weisungen von Personen außerhalb der Europäische Staatsanwaltschaft, von Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union weder einholen noch entgegennehmen. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union und die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union haben diese Unabhängigkeit zu achten. Die Europäische Staatsanwaltschaft ist lediglich dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission für ihre allgemeinen Tätigkeiten rechenschaftspflichtig und gibt Jahresberichte nach Art. 7 EUStA-Verordnung heraus. Diese Unabhängigkeit wird auf nationaler Ebene u.a. durch § 5 EUStAG abgesichert. Danach sind die Delegierten Europäischen Staatanwältinnen und Staatsanwälte in dieser Eigenschaft ausschließlich den Weisungen und der Aufsicht nach Maßgabe der EUStA-Verordnung unterstellt. Die §§ 144 bis 147 GVG sind insoweit nicht anzuwenden.
Rechtsanwalt Prof. Dr. Carsten Wegner, Berlin