Aus wistra 6/2021
Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat ein Papier zum Thema „Einzelaspekte betreffend die Auslieferung durch die Schweiz im Falle von Steuer- und Betrugsdelikten“ veröffentlicht (WD 7 – 3000 – 139/20).
Zu den direkten Steuern heißt es:
„Das Schweizer Rechtshilfegesetz (IRSG) regelt nach dessen § 1 Abs. 1, soweit andere Gesetze oder internationale Vereinbarungen nichts anderes bestimmen, alle Verfahren der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in Strafsachen, insbesondere auch die Auslieferung strafrechtlich verfolgter oder verurteilter Personen (zweiter Teil des IRSG).
Als internationale Vereinbarungen, die anderes bestimmen, kommen insbesondere das Europäische Auslieferungsübereinkommen (EAUe) und das Zweite Zusatzprotokoll zum EAUe in Betracht. Sowohl für Deutschland als auch für die Schweiz sind diese Vereinbarungen in Kraft getreten.
Nach Art. 5 des EAUe wird in Abgaben-, Steuer-, Zoll- und Devisenstrafsachen die Auslieferung unter den Bedingungen dieses Übereinkommens nur gewährt, wenn dies zwischen Vertragsparteien für Einzelne oder Gruppen von strafbaren Handlungen dieser Art vereinbart worden ist. Eine in Art. 5 EAUe beschriebene Vereinbarung hat die Schweiz bislang aber nicht abgeschlossen. Zwar regelt das Zweite Zusatzprotokoll zum EAUe in Kapitel II, Art. 2, dass Art. 5 des EAUe durch bestimmte Regelungen ersetzt wird, die bei Abgaben-, Steuer-, Zoll-, oder Devisenstrafsachen Auslieferungen durch die Vertragsparteien unter den dort genannten Voraussetzungen vorsehen. Allerdings hat die Schweiz erklärt, Kapitel II des Zusatzprotokolls zum EAUe nicht anzunehmen.
Somit findet grundsätzlich Art. 3 Abs. 3 IRSG Anwendung. Danach wird einem Ersuchen nicht entsprochen, wenn Gegenstand des Verfahrens eine Tat ist, die auf eine Verkürzung fiskalischer Abgaben gerichtet erscheint oder Vorschriften über währungs-, handels- oder wirtschaftspolitische Maßnahmen verletzt.
Sofern ein Fiskaldelikt (im Schweizer Recht ein Verhalten, das auf die Verkürzung fiskalischer Abgaben gerichtet erscheint, vgl. Art. 3 Abs. 3 IRSG) vorliegt, wird somit eine Auslieferung durch die Schweiz 'grundsätzlich abgelehnt, soweit nicht im Bereich indirekter Steuern (Mehrwertsteuer, Zoll, Verbrauchsteuern) nach Art. 63 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) eine Verpflichtung hierzu besteht' (vgl. zu dieser Verpflichtung Gliederungspunkt 3 des Sachstands). Eine Auslieferung im Falle von Steuerdelikten bei direkten Steuern (Einkommen- und Vermögensteuern) ist ausgeschlossen. Es erfolgt dann sowohl bei Steuerhinterziehung als auch Abgabebetrug (bzgl. letzterem vgl. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 lit. a IRSG: nur „andere Rechtshilfe“ nach dem Dritten Teil des IRSG) keine Auslieferung.“
Zu den indirekten Steuern heißt es:
„Allerdings ist die Schweiz gegenüber Deutschland nach Art. 63 i.V.m. Art. 50 Abs. 1 SDÜ „zur Auslieferung in den dort genannten Fällen der indirekten Fiskalität verpflichtet“. Die Vertragsparteien des SDÜ verpflichten sich gemäß Art. 63 SDÜ, nach Maßgabe der in Art. 59 SDÜ erwähnten Übereinkommen, also insbesondere des EAUe, die Personen auszuliefern, die durch die Justizbehörden der ersuchenden Vertragspartei im Zusammenhang mit einer strafbaren Handlung nach Art. 50 Absatz 1 SDÜ verfolgt werden oder zur Vollstreckung einer aufgrund einer solchen Handlung verhängten Strafe oder Maßnahme gesucht werden. Nach Art. 50 Abs. 1 Satz 1 SDÜ verpflichten sich die Vertragsparteien, Rechtshilfe (…) zu leisten wegen Verstößen gegen die gesetzlichen Bestimmungen und Vorschriften im Bereich der Verbrauchsteuern, der Mehrwertsteuern und des Zolls (indirekte Steuern).
Nach Art. 2 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft über die Assoziierung dieses Staates bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstands (Schengen-Assoziierungsabkommen, im Folgenden: SAA) werden die in Anhang A des SAA aufgeführten Bestimmungen des Schengen- Besitzstands, die für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union gelten, von der Schweiz umgesetzt und angewendet. Hierzu zählen auch die Art. 50 Abs. 1, 59 und 63 SDÜ (vgl. Teil 1 des Anhangs A des SAA).
Alle Bestimmungen, die im Anhang A des SAA enthalten sind, gelten nach Art. 15 Nr. 1 SAA in Zusammenschau mit Art. 1 Abs. 1 eines Beschlusses des Rates (der Europäischen Union) vom 27. November 2008 für die Schweizerische Eidgenossenschaft in ihren Beziehungen unter anderem zur Bundesrepublik Deutschland mit Wirkung vom 12. Dezember 2008.
Die Bestimmungen des Kapitels 4 des SDÜ (Art. 59-66 SDÜ) sollen gemäß Art. 59 Abs. 1 Satz 1 SDÜ das EAUe ergänzen und seine Anwendung erleichtern. Nach Art. 2 Abs. 1 Satz 1 EAUe wird wegen Handlungen ausgeliefert, die sowohl nach dem Recht des ersuchenden als auch nach dem des ersuchten Staates mit einer Freiheitsstrafe oder die Freiheit beschränkenden sichernden Maßnahme im Höchstmaß von mindestens einem Jahr oder mit einer schwereren Strafe bedroht sind. Sofern ein Steuerpflichtiger nur bestimmte Einkünfte nicht meldet, liegt nach dem Schweizer Recht eine (einfache) Steuerhinterziehung vor, der lediglich (Geld-)Buße vorsieht, vgl. auch Art. 56 des Schweizer Steuerharmonisierungsgesetzes (StHG), Art. 175 des Schweizer Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer (DBG) und Art. 96 des Schweizer Mehrwertsteuergesetzes (MWStG). Dies spricht dafür, dass die einfache Steuerhinterziehung nach Schweizer Recht wohl keine Auslieferung nach sich ziehen dürfte. Gleichwohl finden sich Literaturstimmen, die die Auffassung vertreten, eine Auslieferung durch die Schweiz erfolge nicht nur wegen fiskalischer Straftaten, sondern auch 'in Verfahren wegen fiskalischer Ordnungswidrigkeiten nach Maßgabe des Art. 50 Abs. 5 SDÜ'. Unabhängig von der Frage, ob eine Auslieferung bei einer Steuerhinterziehung nach Schweizer Recht erfolgt, liegt ein Abgabebetrug gemäß Art. 14 Abs. 2 des Schweizer Bundesgesetzes über das Verwaltungsstrafrecht (VStrR) vor, wenn der Täter durch sein arglistiges Verhalten bewirkt, dass dem Gemeinwesen unrechtmäßig und in einem erheblichen Betrag eine Abgabe, ein Beitrag oder eine andere Leistung vorenthalten oder dass es sonst am Vermögen geschädigt wird. Voraussetzung ist dabei eine arglistige Täuschung, wobei 'immer besondere Machenschaften, Kniffe oder ganze Lügengebäude erforderlich' sind. Im Falle des Abgabebetrugs ist die Strafe nach Art. 14 Abs. 2 VStR Gefängnis bis zu einem Jahr oder Buße bis zu 30.000 Franken. In Deutschland wird die Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Sofern das Verhalten, welches die Steuerhinterziehung nach deutschem Recht verwirklicht, zugleich einen Abgabebetrug nach schweizerischem Recht darstellt und indirekte Steuern betroffen sind, kommt eine Auslieferung in Betracht.
Mitunter wird die Ansicht vertreten, dass die Auslieferungspflicht der Schengen-Assoziierten grundsätzlich durch Vorbehalt auf die Hinterziehung von Verbrauchsteuern und Mehrwertsteuer über 25.000 Euro und von Zöllen auf einen Warenwert von über 100.000 Euro“ nach Art. 63 i.V.m. Art. 50 (wohl Abs. 4) SDÜ beschränkt werden könne. Auch die Schweiz sei ab einer Umsatzsteuerhinterziehung von mehr als 25.000 Euro aufgrund entsprechender Abkommen zur Auslieferung verpflichtet. Weiterhin sieht Art. 3 Abs. 3 Satz 2 lit. b IRSG vor, dass einem Ersuchen nach allen Teilen dieses Gesetzes (also auch nach dem Zweiten Teil: 'Auslieferung') entsprochen werden kann, wenn ein qualifizierter Abgabebetrug im Sinne von Artikel 14 Absatz 4 VStrR Gegenstand des Verfahrens ist. Es wird vertreten, dass diese innerstaatliche Regelung wohl für den Fall des qualifizierten Abgabebetrugs in Bezug auf indirekte Steuern gelte.“
Zum Betrug heißt es:
„Weiterhin kommt eine Auslieferung im Falle der Begehung eines gemeinrechtlichen Betrugs in Betracht, welcher nach Art. 146 Abs. 1 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs grundsätzlich mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft wird. Auch in Deutschland wird der Betrug gemäß § 263 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Beim gemeinrechtlichen Betrug greift Art. 3 Abs. 3 IRSG wohl nicht, sodass eine Auslieferung nach dem Zweiten Teil des IRSG in Betracht kommen dürfte. Denn eine Verkürzung fiskalischer Abgaben im Sinne des Art. 3 Abs. 3 IRSG ist gegeben, 'wenn der Private dem Staat nicht das leistet, was er ihm aufgrund der maßgebenden Abgabegesetze schuldet', nicht aber, wenn ein Privater den Staat zu einer Leistung veranlasst, welche ohne täuschende Machenschaften nicht erhältlich wäre. Sofern durch Täuschung im Rahmen eines Rückerstattungsverfahrens, welches 'dem Steuerpflichtigen durch einen vorangehenden Steuerabzug aufgezwungen wurde', eine rechtswidrige Rückerstattung von Steuern bewirkt wird, ist ein Fiskaldelikt gegeben. Wenn sich der Täter aber 'aus eigener Initiative entschlossen hat, durch Irreführung der Behörden sich unrechtmäßig zu bereichern, indem er fiktive Rückerstattungsansprüche geltend macht und mittels falscher Urkunden die Auszahlung erwirkt', liegt dagegen ein gemeinrechtlicher Betrug vor.“
Rechtsanwalt Prof. Dr. Carsten Wegner, Berlin