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Systematische Verletzung des Verifikationsprinzips?

Aus wistra 4/2021

Rechtsanwalt Prof. Dr. Salditt wies im Rahmen seiner Eingangsmoderation zur WisteV-wistra-Neujahrstagung 2021 (Tagungsbericht in Heft 2 S. IX f.) auf mögliche Konsequenzen hin, die sich bei einer systematischen Verletzung des Verifikationsprinzips bei Steuererklärungen oder -anmeldungen ergeben könnten. Er warf die Frage auf, ob nicht eine bedingt vorsätzliche Eigenverletzung durch den Fiskus vorliegen könnte, die auch durch die dogmatische Struktur des § 370 AO erfasst werden müsse und sich deshalb bei der strafrechtlichen Bewertung einzelner Sachverhalte auswirken könne.

Lesenswert sind in diesem Zusammenhang jüngere Hinweise des Landesrechnungshofs Hamburg im Jahresbericht 2020: „Programmgesteuerte Bearbeitung von Steuererklärungen – Fortentwicklung des Risikomanagements“, die verdeutlichen, dass menschliche (Kontroll-)Prozesse inzwischen im Rahmen steuerlicher Festsetzungen immer weiter zurückgedrängt worden sind bzw. werden:

„Seit 2008 werden in Hamburg Erklärungen zur Einkommensteuer programmgesteuert bearbeitet. Zum Verfahren gehört ein maschinelles Risikomanagement, mithilfe dessen entschieden wird, ob eine Steuererklärung als risikoarm oder risikobehaftet gilt. Nur Erklärungen, die als risikobehaftet gelten, werden ausgesteuert und sind sodann hinsichtlich der für die Aussteuerung ursächlichen Angaben zu überprüfen. Da die Angaben der Steuerpflichtigen mit Referenzgrößen abgeglichen werden, ist diese Form des Risikomanagements nur insoweit nutzbar, als eine risikoadäquate Bildung derartiger Referenzgrößen möglich ist. Es eignet sich deshalb besser für die sog. Überschusseinkunftsarten als für die sog. Gewinneinkunftsarten, bei denen die Spannbreite der Betriebsgrößen die risikoadäquate Bildung von Referenzgrößen erschwert und für die eine standardisierte Erfassung von Bilanzen und Einnahmen-Überschuss- Rechnungen erforderlich ist, die sich erst im Aufbau befindet.

Um hinsichtlich der Gewinneinkunftsarten die vollmaschinelle Bearbeitung risikoarmer Steuererklärungen auszuweiten, wird seit 2017 jeder Steuerpflichtige einer von drei Risikoklassen zugeordnet. Die Zuordnung liegt in den Händen der Bearbeiterinnen und Bearbeiter. Nur ausnahmsweise findet eine maschinelle Zuordnung statt. Dies geschieht dann, wenn die Aussteuerung eines Falls zur Überprüfung der Risikoklasse sichergestellt werden soll oder wenn nach dem Prüfungsgeschäftsplan eine Betriebsprüfung vorgesehen ist und der Fall zur Entlastung des Steuerfestsetzungsverfahrens einer dafür vorgesehenen speziellen vierten Risikoklasse zuzuordnen ist. Eine vollmaschinelle Bearbeitung der Steuererklärungen findet statt, wenn sich aus dem regelbasierten Risikomanagement kein Risikohinweis ergeben hat und es sich um einen Steuerpflichtigen handelt, der der Risikoklasse drei oder BP zugeordnet worden ist. Auch in Fällen der Risikoklasse zwei ist unter bestimmten Voraussetzungen eine vollmaschinelle Bearbeitung möglich.

Der Rechnungshof hat die programmgesteuerte Bearbeitung von Steuererklärungen bereits mehrfach geprüft. Die jetzige Prüfung diente vorrangig der Nachschau. Im Übrigen hat sie sich mit der erstmaligen Zuordnung der Risikoklassen befasst.“

2017 wurde in Hamburg jeder Steuerpflichtige einer Risikoklasse zugeordnet. Als die Finanzbehörde diesen Schritt vorbereitete, sei ihr klar geworden – so wird ausgeführt –, dass die dazu nötige Überprüfung jedes Einzelfalls mit einem die Leistungsfähigkeit der Finanzämter übersteigenden Arbeitsaufwand verbunden sein würde. Bei etwa 580.000 Fällen und einem geschätzten Aufwand von 15 Minuten pro Fall rechnete sie mit einem zusätzlichen Zeitbedarf von 145.000 Stunden, für welches das Personal fehlte. Zur Entlastung der Bearbeiter habe die Finanzbehörde – Steuerverwaltung – an verschiedenen Punkten angesetzt, die beim Rechnungshof nun zu verschiedener Kritik geführt haben.
Die durch Salditt angestoßene Diskussion dürfte hiernach kein schnelles Ende finden; ganz im Gegenteil.

Rechtsanwalt Prof. Dr. Carsten Wegner, Berlin


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